Onkel Frank wandert aus
____________________

Wenn ich eins in meinen fünfzig Jahren Familiengeschichte gelernt habe, ist das – „Mach Dich rar!“
Diejenigen, die man am seltensten zu fassen kriegt, hinterlassen offenbar die interessantesten Spuren.
Meine Omi Hilde war bis zu ihrem 97. Lebensjahr schwer verliebt in ihren Alfred. Fredy, den sie nur kurze Zeit als Ehemann
bei sich hatte, der ihr zwei Kinder schenkte und dann in einen Krieg musste, aus dem er nicht zurückkam. Mit dem es nur Flitterwochen, keinen Ehe-Alltag gab. Keine übergekochte Milch. Keinen Seitensprung. Keinen Ehekrach …
Der einfach – immer schmerzlich vermisst – über die Jahre zum Ideal wurde.
Ähnlich erging es meiner Mutti Karin, mit ihrem Bruder Frank. Franky, der glasklar aussah wie Sinatra, der eine Französin geheiratet hatte und mit ihr 1953 nach Toronto in Kanada auswanderte.
Onkel Frank war vom Rest der Familie, von uns real Anwesenden im Leipziger DDR-Alltag, nicht zu toppen.
Da schwelgten Film-Illusionen mit, ungelebte eigene Träume, Klischees aus den Erzählungen derer, die einen kannten,
der einen kannte, der schon mal was gehört hatte …
Erstaunlich, dass die Lebensrhythmen der Geschwister dennoch ähnlich verliefen – denn auch Onkel Frank hatte,
wie meine Eltern in Leipzig – drei Kinder – Mädchen, Junge, Mädchen, die jeweils hier und dort im gleichen Jahr
geboren wurden …
Sein Leben dort im fernen Kanada war ohne Frage von fleißiger Arbeit geprägt. Er hatte Opa Alfreds Beruf – Bäcker – gelernt und war mit seiner Kunst, „Schwarz“-Brot backen zu können, im fremden Land ordentlich durchgestartet. Aber auch seine Backwaren konnten sich offensichtlich sehen lassen. Es wurden kartonweise Torten in der kleinen „bakery“ abgeholt.
Zu der Zeit war mein Vater in Leipzig bereits Diplom-Ingenieur und strebte in die Kombinatsleitung. Ich, die „Große“, bereitete mich an der Penne auf das Abitur vor und mein jüngerer Bruder besuchte eine Schule mit Spezialsprachunterricht.
Das war doch auch was! Aber für die Familiäre Kaffeetafel war es nie genug. All das war „Heimisches“, „Hiesiges“ – und damit normal und alltäglich. Die heimlichen Träume zwischen den Familienfeiern bewegten sich in offenbar ganz anderen Regionen.
Den Höhepunkt der innerfamiliären Verwirrnisse erreichten wir, als Omi Hilde 1973, nun Rentnerin, endlich ihren Franky in Toronto besuchen durfte. Sie flog! Von Prag! – Was zweifellos zu DDR-Zeiten schon verruchtes Abenteuer genug darstellte.
Dass mein zweiter Opa Martin sie in ihre alte Familiengeschichte und deren neue Heimat nicht begleiten konnte, musste er hinnehmen ... Aber er hatte ja uns.
Und Omi Hilde erlebte dort im fernen wilden Kanada offensichtlich eine unkomplizierte Herzlichkeit und Lebensfreude,
die sie gründlich veränderte.
Natürlich zeigt man dem Besuch aus Germany höflich, engagiert und kostenlos alle Sehenswürdigkeiten der Umgebung,
stellt die Granny als hochwillkommenen Gast allen Freunden und Verwandten vor, fährt sie mit dem eigenen Cadillac herum, nimmt sie auf dem eigenen Motorboot mit, zeigt ihr Niagara und Braunbären. 
Und man geht shoppen!
Heute, über 40 Jahre später, „kein Ding“, sollte man meinen.
Aber in den 1970ern, im Kontrast zum aktuellen Leipziger DDR-Alltag …
Meine Omi war viele Jahre als vereidigte Botin mit Stipendiengeldern und Doktorarbeiten der Sächsischen Akademie in der Leipziger Innenstadt unterwegs. Und in Sachen shopping machte ihr keiner was vor. Aber das hier in der Riesenstadt Toronto, das war ja wohl ordentlich eine andere Liga! Eine französischstämmige Schwiegertochter. Wolkenkratzer bis zum Himmel und zurück. Dallas im heimlichen Westfernsehen war nichts dagegen.
Und wie sicherlich alle Verwandtschaft aus der kleinen DDR bekam auch meine Omi in den Wochen ihres Auslands- Aufenthaltes sämtliche verwachsenen, verwaschenen, abgelegten, aber „mit ein bisschen gutem Willen doch noch sehr gut zu tragenden“ Kleidungsstücke der gastgebenden Familie in den Koffer gepackt.
Als meine Eltern – extra mit dem Auto nach Berlin gefahren, da Omis Rückflug dort enden sollte – am Flughafen ihre „Rentnerin“ abholen wollten, brach sich ein trompetengleiches „Juchuuu!“ Bahn über den gesamten Landeplatz.
Was dann auf der Gangway erschien, verschlug beiden die Sprache. Und einen kurzen Moment spielten sie wohl mit dem

Gedanken, sich nicht zu erkennen zu geben: In roten Schlaghosen, mit Plateauabsätzen und unter einem riesigen Glockenhut … betrat unsere Omi Hilde wieder realen sozialistischen heimischen Boden.
Es brauchte Wochen, sie zu „erden“…